Muss die Kindheit immer schön und beschwert sein? Als Psychologin und Mama suche und finde ich zwischen Selbstzweifeln, meinen eigenen Triggern und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie entlastende Perspektiven.
Es ist fast 22 Uhr, als der Wasser-Alarm in der Garage auslöst. Jetzt muss es schnell gehen: Mein Mann hechtet mit seinen Gummistiefeln raus in den Sturm. Hagel, Wind und Starkregen sind so heftig, dass man kaum aus der Tür heraus sehen kann. Ach du Schande. Kurz darauf folge ich ihm.
Eine halbe Stunde später ist das Auto gerettet, der Sturm hat nachgelassen und der Wasserfluss im, aus dem das Grundwasser in unser Haus drückte, hat sich wieder umgekehrt. Statt einem sprudelnden Springbrunnen ist jetzt nur noch ein leises Gluckern zu hören, während das Wasser mit einem beruhigendem Drehkreisel abläuft. Alles muss noch getrocknet werden, das dauert.
Kurz bevor der Sturm losbrach und mich in Aktion versetzt hat, lag ich im Kinderbett und atmete tief und gleichmäßig – um meinem Sohn zu zeigen, dass wir sicher und geborgen sind. Nach den ersten aufregenden und auch schönen Tagen an der Grundschule sind gestern ein paar Dinge passiert, die ihm zu schaffen machen. Die seinem Sinn für Gerechtigkeit widersprechen. Er brauchte lange, bis er einschlafen konnte.
Und auch ich hatte mich auf einen ruhigen Abend gefreut. Ich brauchte dringend etwas Verarbeitungszeit.
Rund um die Einschulung meines Ältesten sind auch in mir viele Anteile aktiv geworden, die noch Themen offen haben mit der Grundschulzeit.
Anteile, die stolz waren, schon so groß zu sein.
Anteile, die gerne gelernt haben und unsere Klassenlehrerin mochten.
Anteile, die Angst hatten, etwas falsch zu machen.
Anteile, die sich manchmal alleine gefühlt hatten und nur noch nach Hause wollten.
Anteile, die wütend waren, weil ihnen manche Regeln oder Lehrer ungerecht vorkamen.
Und ich merke: Nicht nur die Organisation rund um alles, was der Schulstart braucht, ist anstrengend. Sondern auch der Umgang mit allem, was emotional bei den großen und kleinen Umbrüchen im Leben unserer Kinder IN UNS SELBST passiert, weil wir mit ihnen mitfühlen.
Manchmal ist es einfach viel – und das ist ok.
Kind zu sein ist oft komplex, widersprüchlich und emotional.
Genau wie bei Großen, wenn wir mal ehrlich sind.
Mensch sein ist komplex.
Eltern sein ist noch komplexer. Wusstest du, dass ganz oft die Erinnerungen und Gefühle (aka innere Anteile) aus unserer eigenen Kindheit in uns hochkommen, wenn unsere Kinder das Alter erreichen, in dem wir bestimmte Dinge erlebt haben?
Eine Klientin berichtete kürzlich, dass sie nicht wisse, warum sie seit einiger Zeit so traurig, erschöpft und innerlich abwesend sei. Bis wir heraus fanden, dass ihre Tochter gerade genau in dem Alter ist, in dem im Leben der Klientin einige massive Umbrüche stattfanden. Als Kind konnte sie diese Erlebnisse nicht richtig verstehen oder verarbeiten. Und genau diese Erinnerungen wurden einfach durch den Alltag mit einem Kind in diesem Alter wieder getriggert.
Als Mutter sehe ich es als meine Aufgabe, meinen Kindern zu helfen, ihre Gefühle und Wachstumsschritte zu bewältigen. Sie nicht wegzureden. Ein offenes Ohr zu haben. Worte oder eine Körpersprache zu finden, die ihnen das Gefühl geben, dass sie diese Herausforderung schaffen kann. Und dass es ok ist, dabei große Gefühle zu haben.
Der Druck, eine „schöne Kindheit“ zu erschaffen
In den letzten Tagen denke ich oft über den Spruch nach, den mir Luisa aus der Care-Pakete Community geschickt hat: “Unser Alltag ist ihre Kindheit”.
Sie antwortete damit auf meine Frage, welche gut gemeinten Sprüche und Ratschläge euch innerlich unter Druck setzen.
“Die Kindheit” – das klingt für mich im ersten Moment wie etwas, das unbedingt “schön” sein sollte. Als Psychologin suche ich oft nach den Ursachen für Probleme meiner Klienten in dieser ominösen “Kindheit”.
Umso mehr möchte natürlich, dass meine Kinder eine unbeschwerte Kindheit verleben.
Und gleichzeitig weiß ich auch: Der Spruch hat recht. Die Kindheit ist zum größten Teil Alltag. Und der Anspruch, dass jeder Tag bilderbuchartig abläuft, macht Druck. Das ist völlig unrealistisch.
Denn auch wir Erwachsenen haben komplexe Gefühle, die es manchmal schwer machen, so zu reagieren, wie wir es uns in der idealen Welt vorstellen würden.
Heute morgen hat mein Sohn beim Abschied zur Schule geweint. Nach den ersten Tagen voller Stolz kommen jetzt Müdigkeit, Anstrengung und erste unangenehme Erfahrungen durch.
Und sobald er aus dem Blickfeld verschwunden war, flossen auch bei mir die Tränen.
Als sensible Mutter mit zwei sensiblen Kindern ist mit die ständig bewusst, wie viel die kleinen Dinge ausmachen können. Und immer ist die Frage da: Ist das, was ich tue, das richtige für meine Kinder? Für mich? Welche Konsequenzen hat das alles?
Und ich merke auch: Je mehr Druck ich mir selber mache, desto mehr gebe ich diesen Druck weiter.
Und ich muss mich daran erinnern: In den Momenten, in denen es nicht schön ist, bauen wir oft andere Dinge auf, die uns im Leben helfen: Resilienz. Stärke. Selbstmitgefühl. Konflikte aushalten lernen. Versöhnung.
So nehme ich den Druck raus
Darum sitze ich heute mit einer extra großen Tasse Kaffee am Laptop und erlaube mir einen Low-Expectation-Day. Das bedeutet für mich: Ich kämpfe nicht an gegen die Realität, dass ich mich müde, ausgelaugt und emotional fühle, sondern begegne mir mit Mitgefühl. Ich erlaube mir, heute einfach zu fühlen und keine großen Lösungen anbieten zu müssen.
Ich mache das zuerst, was mir am leichtesten fällt, um in den Flow zu finden. Das ist heute, den Newsletter zu schreiben. (Das überrascht mich ein bisschen, denn ich dachte, mein Körperkompass würde für “Schlafen” abstimmen. Das beste Gefühl war aber tatsächlich die Vorstellung, zu schreiben.)
Ich lasse die Erwartung los, mit sorgfältig recherchiertem Fachwissen zu glänzen. Das kannst du dir gerne in meinem Podcast-Gespräch mit Lilli Koisser anhören. Da sprechen wir über die Ansprüche, die wir Eltern oft an uns haben. Was wir unbewusst über Stress und Selbstfürsorge von unseren Bezugspersonen gelernt haben. Und wie wir das, genauso unbewusst, an unsere Kinder weiter geben. Weil unsere Nervensysteme tausendfach mehr über uns kommunizieren, als unsere Worte.
Ich bin ich froh, dass ich inzwischen weiß, was ich an Tagen wie heute brauche. Wie ich mein aufgewühltes Nervensystem sanft und zuverlässig zurück führen kann, sodass es sich selbst wieder reguliert.
Es ist ehrlich gesagt gar nicht so viel: Direkt nachdem der Wecker klingelt mache ich 15 Minuten Breathwork im Bett, liegend. Das hilft besonders nach kurzen Nächten. Nein, ich schlafe dabei nicht wieder ein. Ja, es wirkt auch, wenn die Kinder wach werden und mich nach 7 Minuten unterbrechen: “Ich will eine warme Milch!”
Der schnelle Spaziergang zur Schule durch die kühle, feuchte Morgenluft tut mir gut. Zu sehen, wie die Sonne Streifen in den Dampf zeichnet. Eine Umarmung von einer Freundin, die ich auf dem Schulweg treffe.
Später, als ich alleine bin, ein kleiner Check-in mit meinen Anteilen. Eine warme Umarmung für alle inneren Kinder, die früher auch ihre Mama vermisst haben. Mich zu fragen, was die innere Stimme der Liebe zu ihnen sagen würde (auch wenn ich gerade keine Lust habe, mich hinzusetzen und tatsächlich einen Brief zu schreiben). Ein warmes Getränk und die Erlaubnis, meine Pläne anzupassen. Langsam zu machen.
Ein Podcast, auf den ich mich in der Mittagspause freue (weil das Zuhören einer ruhigen Stimme mein Nervensystem beruhigt, schon seit ich mich mit Benjamin-Blümchen-Kassetten eingeschlafen bin).
Du hast mehr Einfluss, als du denkst.
“Man kann nichts machen”, sagt meine Freundin zu mir. Sie meint damit, dass wir keinen Einfluss haben, was in der Schule passiert.
Und ich denke: Doch. Ich kann zuerst mir selbst und dann meinen Kindern zeigen, was es bedeutet, sich den Herausforderungen, Stürmen und Ungerechtigkeiten im Leben mit Mut UND Mitgefühl zu stellen.
Denn unser Nervensystem bestimmt auch in der Schule, wie wir alles wahrnehmen. Wie sicher wir uns fühlen in uns selbst fühlen. Wie wir die Beziehung zu anderen erleben. Es ist die Brille, durch die wir unser ganzes Leben sehen. Wie sie gefärbt ist, macht einen großen Unterschied.
Ich KANN meinen Kindern vorleben, sich auf sichere Art an den Rand der Komfortzone und manchmal darüber hinaus zu bewegen. Und auch, was es braucht, um sich danach wieder wohl, sicher und fröhlich zu fühlen. Ich kann ihnen vorleben, was es bedeutet, sensibel zu sein, dazu zu stehen UND ein paar Tricks im Ärmel zu haben, mit denen ich mich beruhigen kann. (Die findest du übrigens alle in meinem kostenlosen Ebook).
Nicht mit dem Anspruch, das alles an mir abprallt wie an einer Teflonpfanne. Sondern mit der Erlaubnis, mir den Raum zu geben, das Aufregende und Schwere zu verarbeiten. Es zu umarmen. Tränen fließen zu lassen, statt sie zu unterdrücken. Zu vertrauen, dass sie den Klos im Hals wegspülen und den Weg frei machen für das nächste Lachen, das aus dem Bauch hochgluckert.
Wenn ich mich darauf besinne, merke ich, wie ganz von alleine wieder innere Ruhe, Klarheit und Zuversicht in mir aufkommen.
Wie ich die positiven Seiten beginne zu sehen, ohne dass ich mich zwingen muss “positiv zu denken”.
Und genau das hoffe ich auch meinen Kindern mitzugeben: Dass wir schwere Dinge schaffen können. Dass wir dabei keine Angst vor großen Gefühlen haben müssen. Dass das Leben wunderschön, traurig, ungerecht, witzig, anstrengend, ärgerlich, erfüllend, langweilig und neugierig sein kann – und zwar alles an einem Tag. Dass es normal ist, viele Sachen gleichzeitig zu fühlen. Dass das genau das ist, was unser Leben bunt und lebendig macht.
Und dass das wir allen Anteilen, die verschiedene Meinungen darüber haben, freundlich begegnen können.
Und ich schätze, all das können wir im Alltag, der ihre Kindheit ist, wirklich täglich trainieren.
Zusammengefasst:
Was den Alltag unserer Kinder prägt, ist aus meiner Sicht
- in erster Linie unsere Haltung und Kapazität als Eltern, uns selbst, den Kindern und anderen Menschen wohlwollend zu begegnen.
- Die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass mein Nervensystem immer wieder in den Zustand zurück findet, indem Wohlwollen überhaupt möglich und authentisch ist.
- Meinen Blick weg von den Umständen zu lenken und hin zu meiner Reaktion, meiner Bewertung, meinen Bedürfnissen und Gefühlen. Für die kann ich sorgen. Hier habe ich wirklich Einfluss. Ob und wie ich damit umgehe, wird das Vorbild sein, das meine Kinder prägt.
Reflexionsfragen:
Ich würde dich gerne fragen: Was löst der Satz “Dein Alltag ist ihre Kindheit” bei dir aus?
- Was hilft dir, dich an aufgewühlten Tagen wieder zu erden?
- Welche inneren Kinder brauchen heute eine sanfte Umarmung?
- Und welcher innere Kritiker ist vielleicht besonders laut, um ein kleines Kind in dir zu beschützen?
Schreib mir gerne oder lass einen Kommentar unten auf der Seite da.
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