Was wäre, wenn Nichtstun das Produktivste ist, das du tun kannst?
In den ersten Wochen des Jahres erleben wir oft einen inneren Konflikt:
Wir wollen voller Energie ins neue Jahr starten, setzen uns neue Ziele und denken über Veränderungen nach. Gleichzeitig hat unser Körper mitten im Winter meistens weniger Energie und möchte sich intuitiv zurück ziehen.
Was, wenn das kein Widerspruch sein muss?
Am Anfang des Jahres kann das bewusste Loslassen von Zielen und Druck eine befreiende Alternative sein.
Heute spielen wir mit dem Gedanken, dass Nichtstun manchmal der beste Weg ist, um wirklich voranzukommen, Klarheit und Ruhe zu finden.
Inhaltsverzeichnis
Achtung, Denkfalle:
In unserer Kultur wird Stillstand oft mit Faulheit verwechselt, während sichtbare Aktivität mit Erfolg gleichgesetzt wird. Dabei übersehen wir, dass wahre Produktivität nicht immer durch mehr Tun entsteht, sondern oft durch das bewusste Weniger.
In der Psychologie sprechen wir vom Additive Bias – der fälschlichen Annahme, dass man eine Situation verbessert oder eine Aufgabe löst, indem etwas ergänzt oder hinzufügt – selbst wenn das Weglassen bestimmter Dinge tatsächlich effektiver wäre. Da fühle ich mich selbst auch oft ertappt 😅
„Um die Welt zu verändern, müssen wir lernen, darin still zu stehen.“
– Yogi Mingur Rinpoche
Bewusst loslassen statt aufgeben
Das bedeutet nicht, dass du dir keine Ziele setzen solltest. Es hilft, dir bewusst zu machen, in welche Richtung du gehen möchtest. Doch oft blockieren wir, wenn wir uns zu viel vornehmen – oder zu stark an einem Idealzustand festhalten.
Paradoxerweise ist es so, dass wir Menschen unsere Ziele oft genau dadurch erreichen, dass wir sie immer wieder bewusst loslassen.
Warum fällt es mir plötzlich so schwer, mein Ziel zu erreichen?
Veränderungen anzustoßen kostet unser Gehirn viel Energie. Gerade im Winter ist es besonders schwer, diese aufrecht zu erhalten. Warum ist das so?
Unser Nervensystem auf allen Kanälen die Information, Energie zu sparen:
- Die Tage sind kürzer, sodass Tageslicht unsere Augen und unsere Haut erreicht
- Es ist kalt
- Wir sind häufiger krank
- Wir bewegen uns weniger, und öfter drinnen als draußen
All das führt dazu, dass wir uns intuitiv lieber ausruhen, anstatt mit viel Energie auf etwas neues zuzugehen.
In dieser Zeit gegen den Körper anzukämpfen, verschwendet oft nur noch mehr Kraft.
Häufig fangen wir genau dann an uns zu zweifeln:
Bin ich zu undiszipliniert? Habe ich mir die falschen Ziele gesetzt?
Mit diesen Gedanken fühlen wir uns meist zusätzlich unwohl. All das führt dazu, dass wir bewusst oder unbewusst wieder auf Abstand zu unseren Zielen gehen.
Eine befreiende Alternative
Durch Druck und Selbstzweifel entsteht ein Teufelskreis, der uns am Ende weiter weg von unseren Zielen bringt.
Doch was können wir stattdessen machen, wenn wir diese typische Phase der Lustlosigkeit erleben?
Paradoxerweise ist das beste, was wir oft tun können, uns erlauben, unsere Ziele immer wieder los zu lassen.
Das ist nicht das gleiche wie Aufgeben.
Wenn wir unsere Ziele bewusst loslassen, geschehen drei Dinge:
- Erstens erleben wir oft eine Erleichterung, wenn der Druck nachlässt, gegen uns selbst anzukämpfen.
- Zweitens entsteht eine Pause, in der unser Gehirn die Informationen aus unseren bisherigen Schritten auf unser Ziel hin auf einer tieferen Ebene verarbeitet, vernetzt und sortiert.
Sobald wir unser Ziel bewusst loslassen und uns mit etwas anderem beschäftigen (idealerweise etwas kreativem), schaltet unser Gehirn in andere Schaltkreise. - Dann passiert das, was uns unseren Zielen wieder näher bringt:
Plötzlich entstehen ganz neue Verknüpfungen, Ideen und Gedanken, die uns durch bewusstes Denken und Festhalten nicht gekommen wären. Nur durch das bewusste Loslassen nutzen wir unser ganzes Gehirn, um neue Ideen zu generieren – und gleichen sie mit unserem ganzen unbewussten Wissen und unseren Bedürfnissen ab. Ganz ohne, dass du etwas dazu tun musst.
In dieser Ruhe tanken wir auch die Reserven wieder auf, die wir durch unsere aktiven Versuche vielleicht erschöpft haben. Und plötzlich kommt die Lust zurück, es wieder zu versuchen – oder eine geniale Idee für eine gute Alternative.
Durch Loslassen entsteht Raum für echte, innere Motivation
In diesem Moment kommt die Motivation, Kraft und Inspiration von INNEN statt von Außen – und wird damit zu unserem besten Motor.
In Ruhephasen repariert und reinigt sich jedes Organ unseres Körpers, unser Gehirn und unser Immunsystem.
In der Ruhe verknüpfen sich hundertausende Neuronen zu neuen Netzwerken, werden Informationen verarbeitet und abgespeichert.
Darum haben wir die besten Ideen oft beim Aufwachen, unter der Dusche, im Auto oder beim Spaziergang.
In der Ruhe komme ich zu mir selbst nach Hause.
Ich finde meinen inneren Kompass 🧭 und spüre mit Klarheit, was ich wirklich gerade will und brauche – und was mein Leben gerade will und braucht.
In diesem Moment entsteht die Kraft, unsere erste Idee von unserem Ziel loszulassen – und der Raum, um daraus etwas zu machen, das uns wirklich entspricht, an dem wir gerne dran bleiben, das uns anzieht und nicht mehr loslässt.
Das bewusste Loslassen schafft die Chance auf echte Begeisterung für unser Ziel.
Manchmal passiert auch das Gegenteil: Wir spüren ganz klar, dass wir unser Ziel wirklich nicht weiter verfolgen möchten.
Falls es dir so geht, dass dein Ziel dich eher unter Druck setzt und du es nur verfolgst, weil du denkst, dass du es solltest, inspiriert dich vielleicht die folgende Geschichte:
Die Geschichte von Old Survivor
Eine Geschichte geht mir nicht mehr aus dem Kopf, seit ich sie letztes Jahr gehört habe. Sie kommt aus Jenny Odell’s Buch „Nichts tun“:
In den Hügeln über Oakland steht ein besonderer Baum, den viele nicht kennen: Old Survivor, ein 500 Jahre alter Mammutbaum. Er ist der letzte Überlebende des ursprünglichen Waldbestands.
Odell schreibt: „Old Survivor erlebte bereits das Jagen und Sammeln des Ohlone-Volkes, danach die Ankunft der Spanier und Mexikaner bis hin zu den „weißen Profitjägern“. Er stammt aus einer Welt, deren menschliche Bewohner das lokale Gleichgewicht des Lebens bewahrten und nicht zerstörten, in der sich die Küstenlinie noch nicht verändert hatte, in der es Grizzlybären gab, Kalifornische Kondoren und Silberlachse (die im 19. Jahrhundert allesamt aus der East-Bay Region verschwanden). Das sind keine Märchen – tatsächlich ist es noch gar nicht so lange her.“
Die Neuankömmlinge sahen in dem stabilen, gerade gewachsenen, meterlangen Holz der Mammutbäume vor allem eines: Nützlichkeit. Nach und nach wurden alle dieser nützlichen Bäume gefällt und verwertet. Alle, bis auf einen knorrigen, schief gewachsenen Baum, der wenig attraktiv auf einem schwer zugänglichen Felsvorsprung wuchs. Dieser Baum ist heute der einzige Überlebende – daher sein Name, Old Survivor.
Früher waren solche Mammutbäume so riesig, dass Seeleute sie als Orientierungshilfen nutzten. Heute dient Old Survivor auf seine Weise noch immer als Navigationshilfe – nicht für Schiffe, sondern für alle, die sich im Zeitalter der Pseudo-Produktivität nach einer andere Perspektive auf das Leben sehnen.
Ein lebendiges Paradoxon
Old Survivor ist ein lebendiges Denkmal, und er ist ein Paradoxon.
Mich fasziniert mich seine Geschichte.
Durch seine knorrige, wenig einladende Form, man könnte auch sagen, seine eigentümliche und schwierige Art, wurde er letztlich zum einzigen Überlebenden. Odell schreibt: „Allein durch seine Form, ist liefert der Baum ein Bild der Resistance-in-Place, des Widerstands an Ort und Stelle.“
Old Survivor ist auch eine lebendige Erinnerung an eine Zeit, in der ganz anders gelebt und gehandelt wurde als wir es heute gewohnt sind.
Mir stellt dieser Baum einige Fragen:
- Was bedeutet es eigentlich, nützlich zu sein?
- Für wen? Und wofür?
Für die Holzfäller waren die geraden Bäume nützlich.
Doch für den Baum selbst war es seine scheinbare Nutzlosigkeit, die ihm das Überleben sicherte.
Wer definiert eigentlich „Nützlichkeit“?
In meiner Selbstständigkeit stelle ich mir selbstverständlich immer wieder die Frage: Wie kann ich für meine Kunden maximal „nützlich“ sein? Wie kann ich mit meinem Angebot wirklich helfen – und gleichzeitig möglichst attraktiv sein, damit Menschen auf den ersten Blick mit mir arbeiten möchten?
Es scheint das wichtigste und oberste Ziel: attraktiv sein, nützlich sein, Geld verdienen.
Auch als Mutter von zwei kleinen Kindern merke ich, dass die ich bestimmte Erwartungen tief verinnerlicht habe. Selbst, wenn sie niemand direkt an mich ausspricht: Das Wohl meiner Kinder über mein eigenes zu stellen, meine Bedürfnisse anzupassen, möglichst nützlich für alle Familienmitglieder zu sein.
Volle Ehrlichkeit: Ich scheitere jeden Tag an meinem Anspruch, eine „freundliche, unkomplizierte, attraktive, nützliche Frau, Beraterin, Unternehmerin und Mutter“ zu sein – denn es gibt immer irgendwelche Ansprüche, die ich gerade nicht erfüllen kann. Oder möchte.
Jeder Elternteil kennt das: Sich zu zerreissen zwischen dem Wunsch, für die Kinder da zu sein, dem Wunsch, sich auch in einer eigenen Rolle zu erleben und der Notwendigkeit, sich finanziell abzusichern. Der Spagat zwischen klaren Grenzen und der oft unklaren, verworrenen Lebensrealität aus gemischten Bedürfnissen, die sich jeden Tag ändern und entwickeln.
Die Geschichte von Old Survivor hat mich erfrischt, weil er (wie meine Dahlie) einfach stumm sein ganz eigenes Ding macht – und in erster Linie für sich selbst nützlich ist.
Es inspiriert mich, dass er genau dadurch nicht nur seit 500 Jahren überlebt, sondern auch für einen natürlichen Lebensraum und Gleichgewicht um ihn herum sorgt.
Diese uralten Bäume nennt man auch „Mutterbaum“ – sie geben ihren Schutz und überschüssige Nährstoffe an die jungen Sämlinge weiter.
Und ermöglichen ihnen einfach durch ihr ruhiges Da-Sein, ganz unsichtbar unter der Erde, gesund und stark zu wachsen.
Fragen für einen Perspektivwechsel
🪚 An welchen Stellen beginnt die Perspektive der „Nützlichkeit“ in meinem Leben umzuschlagen: In die Unterdrückung meiner natürlichen Bedürfnisse, oder sogar in die Zerstörung meiner Fähigkeit, mich zu erholen?
Provokant gefragt: An welchen Stellen sind wir bereit, unsere beste Zeit und Lebensenergie „ins Sägewerk“ wandern zu lassen, um von der Gesellschaft als nützlich anerkannt zu werden?
🌰 Wie kann in meinem Leben eine „Produktivität“ aussehen, die mich nicht ausbeutet – sondern stärkt und mir Lebensenergie spendet?
🌱 Könnte es nachhaltigere Formen der Nützlichkeit geben, durch die wir mit der Natur um uns, und unserer eigenen Natur, unserem Körper, unserer Psyche und unseren Rhythmen im Einklang leben, statt gegen sie zu kämpfen?
☀️ Was begeistert mich, was macht mir Spaß und gibt mir Energie zurück?
Wie kann ich das nutzen, um für mich Momente des Loslassens zu schaffen?
🪴 Wo könnte es tatsächlich unsere beste Überlebensstrategie sein, zu fragen: „Möchte ich überhaupt nützlich und attraktiv für diese Lebensweise sein? Oder möchte ich mit meinem Leben ein anderes Zeichen setzen? Auch wenn es für einige Menschen, vielleicht sogar für die Mehrheit um mich herum schwierig oder sogar „unnütz“ aussieht?“
🌿 In welchen Bereiche in meinem Leben möchte ich dem ständigen „höher, schneller, weiter – optimierter, automatisierter“ bewusst Widerstand leisten?
Wo möchte ich meine Menschlichkeit nicht länger verstecken, sondern als Ziel meines Daseins feiern?
🌳 Für welche Werte möchte ich ein Leuchtturm, oder ein Navigationsbaum, sein?
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