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Niemand sagt es laut … Das Phänomen „Pluralistische Ignoranz“

Mythbuster - ich durchleuchte eure Fragen und Fundstücke

„Am liebsten würde ich einfach schreiben, was was mich erfüllt! Ohne rechts und links zu vergleichen, was andere machen. Dafür hab ich mich doch selbstständig gemacht!
Aber dann ist da ist immer diese Stimme in meinem Kopf: ‚Das wird keiner kaufen. Die Leute wollen nur auf Umsatz getrimmte Texte.’“
Das beschrieb mir Website-Texterin Anna (Name geändert) letztes Jahr im Gespräch.

Kennst du das auch? Wollen „die Leute“ in deinem Kopf auch etwas ganz anderes als das, was dir am Herzen liegt?

Dann hab ich heute einen spannenden Perspektivwechsel für dich!

Pluralistische Ignoranz – ein verblüffendes psychologisches Phänomen

In einem Artikel der Tagesschau entdeckte ich vor kurzem eine super spannende Studie der Unis Bonn und Frankfurt. Sie befragten über 130.000 Menschen in 125 Ländern über ihre Einstellung zum Klima.
Das Ziel? Herausfinden, wie die Menschen denken und warum wir in Sachen Klimaschutz so langsam voran kommen.

Dabei trafen sie auf einen faszinierenden psychologischen Effekt – und genau das gleiche Phänomen trifft auch auf Anna zu.

Die Teilnehmer bekamen zwei Fragen.
Beantworte sie doch auch mal in deinem Kopf:

  1. Wären Sie bereit, jeden Monat ein Prozent Ihres Einkommens für den Kampf gegen die Erderwärmung herzugeben?
  2. Was schätzen Sie, von 100 befragten Menschen in Ihrem Land: Wie viele geben an, dass sie dazu bereit sind?

Das Ergebnis war verblüffend:

69 Prozent der Menschen weltweit antworteten, dass sie bereit wären, einen Teil ihres Einkommens für den Klimaschutz abzugeben.
Den Anteil der Mitmenschen, die ebenfalls dazu bereit wären, schätzten sie im Schnitt auf 43 Prozent.

Anders ausgedrückt: Die Menschen, die bereit waren, zum Klimaschutz beizutragen, nahmen an, dass sie zur Minderheit gehörten. Dass die Mehrheit ihre Werte und Ziele nicht vertrete.

Doch in Wahrheit waren sie Teil einer überwältigenden Mehrheit!

Dieser Effekt nennt sich „Pluralistische Ignoranz“.

Alltägliche Beispiele für diesen Denkfehler

Pluralistische Ignoranz tritt auf, wenn viele Menschen insgeheim etwas denken oder fühlen, aber fälschlicherweise glauben, dass alle anderen anders denken – und sich deshalb auch selbst angepasst verhalten. 

Der einzelne Mensch unterschätzt die Bereitschaft anderer, so zu handeln, wie er selbst es tun würde. 

Das führt dazu, dass eine Mehrheit sich einer wahrgenommenen Norm beugt, die in Wirklichkeit kaum jemand tatsächlich befürwortet.

Ein klassisches Beispiel: Man traut sich in einem Workshop nicht, eine Frage zu stellen, weil man denkt, alle anderen wüssten die Antwort. 
Doch sobald man sie ausspricht, atmen viele erleichtert auf, weil sie die gleiche Frage hatten!

Zuerst beschrieben wurde das Phänomen 1931 von Floyd Allenport. Er fand heraus, dass die meisten Studenten einer Studentenverbindung privat durchaus bereit wären, afroamerikanische Studenten in der Verbindung aufzunehmen. Aber weil sie dachten, alle anderen seien dagegen, passten sie ihre Meinung der vermuteten Mehrheit an.

Ähnlich gut erforscht ist das Phänomen, dass Menschen, einzeln befragt, oft nur wenig Alkohol trinken wollen. Aber weil sie fälschlich vermuteten, mehr zu trinken würde bei allen anderen besser ankommen, griffen sie in der Gruppe häufiger zur Flasche (Schroeder & Prentice, 1998).

(Weitere witzige und berührende Beispiele und Studien zur pluralistischen Ignoranz hat Lukas Webling für eine Kolumne im Freitag zusammengestellt. Er beschreibt auch das gegenteilige Phänomen: Unterstellt man allen anderen, die eigene Meinung zu teilen, bezeichnet man das als „false consensus“ = Falscher Konsens.)

Diesen Denkfehler aufzudecken ist nicht nur im Hinblick auf den Klimawandel extrem ermutigend:

Die stille Mehrheit: Ein guter Grund zur Hoffnung

Jedes Mal, wenn ich über dieses Phänomen spreche, bekomme ich Gänsehaut und neue Hoffnung. 

Was ist möglich, wenn wir (und auch unsere Politiker) endlich verstehen, dass die Mehrheit geschlossen hinter stärkeren Bemühungen für das Klima steht?

Aber auch in anderen Bereichen:


Vielleicht schaust auch du auf dein Angebot und denkst dir: das will die Mehrheit doch gar nicht. Die wollen lieber genau das, was uns pausenlos in der Werbung oder auf Instagram präsentiert wird. Angebote, die ich selbst zum Weglaufen finde.

Vielleicht denkst du auch: „Keiner sonst hat solche Zweifel. Darum sollte ich lieber gar nicht erst anfangen.“

Und vielleicht stimmt das gar nicht. 

Die Annahme umdrehen – ein Gedankenexperiment

Vielleicht ist die Mehrheit der Menschen von genau den gleichen Dingen erfreut oder genervt wie du. Und freut sich deshalb besonders darauf, dass endlich mal jemand einen Ansatz anbietet, die ihnen wirklich aus dem Herzen spricht – genauso, wie es dich berührt und erfüllt, daran zu arbeiten.

Da wir anderen nicht in den Kopf gucken können (nicht mal ich als Psychologin kann Gedanken lesen 😉) füllen wir die Lücken oft mit unseren eigenen Selbstzweifeln.

Wenn wir davon ausgehen, dass die meisten Leute „gegen“ uns sind, nimmt uns das die Hoffnung und Energie. 
Aber was, wenn deine Fragen oder dein Widerspruch extren wertvoll sind?

Frag dich doch einmal selbst:

🤔 Welches Herzensprojekt schiebst du schon länger vor dir her, weil du heimlich befürchtest, dass niemand außer dir das versteht oder dafür Geld ausgeben würde?

🌿 Was verändert sich, wenn du dir stattdessen vorstellst, dass eine stille Mehrheit dir zustimmt und sich wirklich freuen würde über deine Gedanken, deine Initiative oder dein Angebot?

Hilf mir, mehr Mythen aufzudecken

Wertvoll sind deine Fragen auf jeden Fall für die Mythbuster-Serie, die bald wieder startet. Hier untersuche ich hartnäckige Mythen rund um Psychologie und klopfe sie wissenschaftlich ab.

Auch hier erlebe ich eine stille Mehrheit: Viele antworten, dass sie schon gespannt sind auf die neue Serie. Aber nur wenige trauen sich, ihre Fragen einzureichen. Ich wette, da gibt es viel mehr Fragen unter der Oberfläche.

Was, wenn deine Frage vielen der LeserInnen hier genau aus dem Herzen spricht? Und sie die Antwort genauso entlastet wie dich?

Also – trau dich und schick mir über das Kontaktformular deine Zweifel, deine Frage oder eine Aussage, bei der du dich fragst „Stimmt das eigentlich wirklich?“.

Vielleicht ist die Antwort nicht nur für dich, sondern für ganz viele Menschen wichtig und wertvoll!

Ich freue mich auf deine Gedanken!

Erwähnungen und Quellen:

  • Beitrag der Tagesschau: „Die stille Klimaschutz-Mehrheit„, Judith Kösters, 04.05.2025
  • Beitrag im Magazin Freitag: „Warum wir oft alle gemeinsam daneben liegen„, lukas webling, 11.09.2018
  • Daniel Katz und Floyd H. Allport: Student Attitudes. Craftsman, Syracuse, N.Y. 1931.
  • Schroeder, C. M., & Prentice, D. A. (1998). Exposing Pluralistic Ignorance to Reduce Alcohol Use Among College Students 1. Journal of Applied Social Psychology28(23), 2150-2180.

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Jeden Freitag verschicke ich liebevolle Care-Pakete  für eine Extraportion Selbstfürsorge und natürliches Selbstvertrauen im Alltag.

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